Marx und das Multiversum

Unglaublich, aber wahr: Das Multiversum spielt jetzt auch für Marxisten eine Rolle. Die Zeitung Neues Deutschland bringt dazu heute ein Interview mit Karl Heinz Roth, Titel “Über Marx hinaus ins Multiversum”. Es geht darin gar nicht um Kosmologie. Andererseits spielt dieses Interview doch auch irgendwie in einem Paralleluniversum:

“(…)
Neues Deutschland: Der zentrale Begriff, den Sie als Antwort auf diesen eingeengten Proletariatsbegriff vorschlagen, ist der des »Multiversums« – die Summe aller Ausgebeuteten. Ist das Multiversum auch eine Konsequenz aus der stets blamablen operaistischen Annahme, es gebe bestimmte Segmente innerhalb des Proletariats, das die Prozesse anschieben würde?
Roth: Zumindest ist es ein endgültiger Abschied von dieser Annahme. Sie ging davon aus, dass nach den Facharbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts die industriellen Massenarbeiter die Epoche von den Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den Revolten Ende der 60er und der 70er Jahre geprägt hätten. Diese Auffassung war trotz einiger wichtiger Analysen zu den Klassenzusammensetzungen nicht haltbar.

Neues Deutschland: Vor 15 Jahren hatten Sie eine innerhalb der radikalen Linken intensiv diskutierte »Wiederkehr der Proletarität« prognostiziert. Widersprechen Sie dem nun?
Roth: Es ist eine Weiterentwicklung. Die Ausdehnung von Phänomenen wie Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und anderer deregulierter Arbeitsverhältnisse führte bei mir zur Infragestellung einer ganz bestimmten zentralen Figur der Kämpfe. Es ging schon damals darum, die verschiedenen Existenzweisen innerhalb der Klasse der Ausgebeuteten zusammenzuführen und solidarisch aufeinander zu beziehen. Dennoch blieb dies noch auf die doppelt freie Lohnarbeit beschränkt. Mit dem Begriff des Multiversums wollen wir diese Sicht weiter entgrenzen.”

Dürfen die Marxisten das?

Klar, aber erfunden haben sie das Multiversum nicht. In unserem Buch schreiben wir über den Ursprung des Begriffs:

“Die Wissenschaft nähert sich mit dem Multiversum der Grenze zur Fantasie, das zeigt sich schon die bewegte Geschichte des Worts “Multiversum”. Passend zu seiner Bedeutung wurde es mehrmals erfunden. Erstmals gedruckt erschien es im Jahr 1895. Der amerikanische Psychologe William James schrieb damals in einem Buch The Will to Believe: “Visible nature is all plasticity and indifference – a moral multiverse, as one might call it, not a moral universe” (etwa: Die sichtbare Natur ist beliebig und gleichgültig – ein moralisches Multiversum, wenn man so will, kein moralisches Universum). James dachte nicht an eine Vielfalt von Welten, sondern an einen moralischen Pluralismus in einer einzigen Welt.

Seiner heutigen Bedeutung näherte sich das Wort “Multiversum” mit dem schottischen Hobby-Astronomen Andy Nimmo im Dezember 1960. Nimmo, damals Zweiter Vorsitzender des schottischen Zweigs der Britischen Interplanetarischen Gesellschaft, bereitete einen Vortrag über Hugh Everetts Theorie vor. “Ich brauchte einen Plural, wollte aber nicht ‘Welten’ sagen, weil das in unseren Kreisen Planeten bedeutet”, erinnert Nimmo sich, “also erfand ich das Wort ‘Multiversum’ und definierte es als ‘ein scheinbares Universum, von denen eine Vielzahl das ganze Universum bildet’.” Nimmo verstand also Universum und Multiversum genau anders herum als wir heute. Irgendwie sickerte das “Multiversum” in englische Science-Fiction-Kreise ein, der Autor Michael Moorcock schnappte es auf, gab ihm seinen heutigen Sinn und brachte es in seinen Büchern unter die Leute.”