Magier des Multiversums

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Foto: Max Rauner

John Barrow entwirft Universen und schreibt Bestseller über das Weltall. Dass seine Theorien Widersprüche enthalten, stört ihn nicht sonderlich. Ein Gespräch über die Grenzenlosigkeit der Fantasie

Quelle: DIE ZEIT vom 22. Juli 2004

DIE ZEIT: Der Titel Ihrer jüngsten Vorlesung lautet: Unser Universum und andere. Wer sind die anderen?

John Barrow: Eine Lieblingsbeschäftigung der Kosmologen besteht darin, unser Weltall mit anderen, hypothetischen Universen zu vergleichen. Diese haben meist nur geringfügig andere Eigenschaften. Astrophysiker versuchen zunächst zu verstehen, wie unser Universum beschaffen ist. Dann müssen sie herausfinden, warum es so und nicht anders ist.

ZEIT: Wie viele andere Universen gibt es denn?

Barrow: Eigentlich unendlich viele. Die Physik lässt Universen zu, die sich in jeder Richtung mit einer anderen Geschwindigkeit ausdehnen, oder solche, die rotieren und sich chaotisch verhalten. Unser All ist zum Glück ziemlich einfach. Es expandiert mit derselben Rate in alle Richtungen. Hier und da trifft man zwar auf einige Klumpen – Galaxien und Galaxien-Cluster. Aber im Durchschnitt sind diese Unregelmäßigkeiten sehr klein.

ZEIT: Existieren die anderen Universen wirklich?

Barrow: Wer weiß… Für die Beschreibung unseres eigenen Kosmos spielt das keine Rolle. Nach dem Standardmodell der Kosmologie kann es in unserem Universum durchaus Regionen geben, die sich von dem für uns sichtbaren All stark unterscheiden. Man könnte die ganze Vielfalt möglicher Universen an unterschiedlichen Orten in einem einzigen All vorfinden – oder in einem metaphysischen Sinn von anderen Universen sprechen.

ZEIT: Könnten wir dorthin reisen?

Barrow: Nein. Die anderen Regionen wären so weit weg, dass uns ein Lebenszeichen von dort niemals erreichen würde. Das ist wie eine Kontaktsperre.

ZEIT: Physiker und Astronomen vertreten Theorien von multiplen Universen, vom Urknall und dem ewig expandierenden All, vom großen Kollaps, dem big crunch, und vom zyklischen Universum, das ständig wiedergeboren wird. Das klingt mehr nach Wundertüte als nach Naturwissenschaft.

Barrow: Es gibt eine Art Kern des Fachs, und es gibt allerlei spekulative Theorien an den Rändern. Diese bekommen meistens mehr Aufmerksamkeit als der Kern. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Kosmologen gerne eine Vielzahl an möglichen Theorien formulieren, ohne dass sie diese gleich als ultimative Welterklärung betrachten.

ZEIT: Auch Sie haben mindestens zwei verschiedene Theorien des Universums publiziert. Kriegt man davon nicht Kopfschmerzen?

Barrow: Man darf nicht an seine Theorien glauben! Es passieren allerlei gefährliche Sachen, wenn Leute unbedingt wollen, dass ihre Theorien wahr sind. Das lässt sich bei den Evolutionsbiologen beobachten. Die liegen ständig miteinander im Clinch, weil sie fest davon überzeugt sind, ihre Theorien hätten enorme ideologische oder politische Konsequenzen. In der Kosmologie ist es einfacher, Theorien zu postulieren, als sie auszuschließen. Daher ist es Ziel des Spiels, so viele Szenarien wie möglich zu entwerfen und an den Beobachtungen zu messen.

ZEIT: Ist Gott für Sie auch nur eines von vielen Szenarien?

Barrow: Man kann die Existenz oder Nichtexistenz Gottes nicht wissenschaftlich beweisen. Es gibt ein paar Leute, die das gerne tun würden: die Kreationisten in den USA. Aber das führt zu einer Verleugnung der Realität.

ZEIT: Gehen Sie in die Kirche?

Barrow: Ja. In Cambridge sieht man viele Akademiker in den Kirchen. Übrigens mehr Astronomen als Biologen. Das liegt daran, dass Astronomen und Teilchenphysiker sich stärker mit den Naturgesetzen und den Symmetrien der Natur befassen. Sie sind von der reinen Schönheit der Welt stärker beeindruckt als Biologen und Psychologen, die wohl mehr das komplexe Durcheinander der Welt vor Augen haben.

ZEIT: Gibt es unter den Kosmologen denn einen Konsens über die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte des Universums?

Barrow: Auf jeden Fall. Wir haben inzwischen ein Standardmodell der Kosmologie, und das hat im vergangenen Jahr ein solides Fundament bekommen durch die Daten von WMAP…

ZEIT: …dem Satelliten, der die kosmische Hintergrundstrahlung vermisst (siehe Kasten).

Barrow: Genau. Aus diesen Daten konnten wir alle möglichen Parameter mit einer Präzision von ein bis zwei Dezimalstellen ableiten, etwa die Expansionsrate, das Alter des Universums und die Materiedichte. Statt zu sagen, das Universum sei 12 bis 16 Milliarden Jahre alt, wissen wir heute: Das All ist 13,7 Milliarden Jahre alt, plus/minus 0,1 Milliarden Jahre. 73 Prozent des Universums bestehen aus einer Art dunkler Energie. Der Rest ist Materie: etwa vier Prozent gewöhnliche, sichtbare Materie, ansonsten dunkle Materie.

ZEIT: Dunkle Materie?

Barrow: Der Großteil der Materie unseres Universums besteht nicht aus Atomen oder Molekülen, sondern aus Elementarteilchen, die kaum mit anderen wechselwirken. Viele dieser Teilchen durchqueren in diesem Augenblick meinen und Ihren Kopf.

ZEIT: Sie machen Witze.

Barrow: Durchaus nicht. In jedem Kubikzentimeter gibt es etwa 400 bis 500 dieser Teilchen, und sie sind mit 250 Kilometern pro Sekunde unterwegs. Wir merken davon nichts. Die Hoffnung ist, dass wir die Teilchen eines Tages mit unterirdischen Detektoren nachweisen können, vielleicht sogar noch bevor wir sie mit Teilchenbeschleunigern wie dem Cern in Genf erfassen.

ZEIT: Erlauben Sie eine Zwischenbilanz: Das Universum besteht ungefähr zu 73 Prozent aus mysteriöser dunkler Energie und zu 23 Prozent aus ebenso unbekannter dunkler Materie. Nur vier Prozent sind uns vertraut. Das klingt weniger nach großem Erfolg als nach großer Krise.

Barrow: Zum Glück macht die dunkle Energie ja nichts Kompliziertes. Sie klumpt nicht zusammen, sie sitzt nur da und beherrscht die Ausdehnung des Universums. Sie benimmt sich wie eine Energie, mit deren Existenz wir gerechnet hatten – die Energie des Vakuums. Wir wissen ziemlich genau, welchen Druck diese Energie ausübt und welche Dichte sie hat. Das große Rätsel, vor dem wir stehen, lautet jedoch: Warum hat die dunkle Energie gerade den Wert, den wir ausrechnen? Wenn man die Zahlen einsetzt, erhält man eine 1 mit 120 Nullen. Wäre der Wert 10119 statt 10120, wären wir heute nicht hier. Die dunkle Energie hätte die Ausdehnung des Universums so früh verursacht, dass weder Sterne noch Galaxien entstanden wären.

ZEIT: Wir hatten also Glück?

Barrow: Vielleicht. Hier führen einige Leute die Multiversum-Idee ein. Wenn es nur ein einziges Weltall gibt, so die Argumentation, warum sollte gerade dieses All Leben ermöglichen? Die Multiversum-Anhänger sagen: Lasst uns annehmen, dass alle theoretisch möglichen Universen auch wirklich existieren. Dann leben wir zwangsläufig in einem jener Universen, die Leben zulassen.

ZEIT: Werden die Physiker eines Tages eine »Theorie für Alles« finden, aus der dann nicht nur die dunkle Energie, sondern auch alle anderen Naturkonstanten herauspurzeln?

Barrow: Es wird eine Theorie für Alles geben, aber sie wird nicht eindeutig alle Werte der Naturkonstanten festlegen. Viele Naturkonstanten werden in der Theorie nur als freie Parameter enthalten sein und eher zufällig jene Werte angenommen haben, die wir heute messen. Das jedenfalls legen die String-Theorien nahe.

ZEIT: Braucht die Physik wieder einen Umsturz? Eine ähnliche Revolution wie beim Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik?

Barrow: Vielleicht brauchen wir eher eine Revolution in der Mathematik als in der Physik. Denn die String-Theorien benötigen sehr anspruchsvolle mathematische Methoden…

ZEIT: …und sind ziemlich praxisfern.

Barrow: In der Tat ist es zurzeit ein großes Problem, dass String-Theorien keine experimentell überprüfbaren Vorhersagen machen. Die Vorhersagen sind noch in der mathematischen Komplexität der Theorie verborgen. Das ist so, als müsste man Schmuck aus einem Safe holen, dessen Kombination man nicht kennt. Also muss man alle möglichen Zahlenpermutationen ausprobieren. Bis jetzt war das nicht erfolgreich.

Das Gespräch führte Max Rauner