David Deutsch ist ein kauzig-genialer Physiker an der Universität Oxford und einer der größten Verfechter des quantenmechanischen Multiversums. Im diesem kurzen Interview, das er nach seinem letzten TED-Vortrag gab, erklärt er den Stand der Everett’schen Viele-Welten-Deutung der Quantenmechanik. Ungefähr zehn Prozent der Physiker glauben an sie, schätzt er, Tendenz “allmählich aufwärts kriechend”.
“Der Spielraum Gottes schrumpft”
Andrei Linde und Alexander Vilenkin zählen zu den besten Kosmologen de Welt. Und sie haben eine provozierende These: Unser Universum ist nicht das einzige. In den anderen Welten leben unsere Doppelgänger

Quelle: DIE ZEIT vom 07. Februar 2008
DIE ZEIT: Früher glaubten Kosmologen an ein ewiges Universum, dann erzählten sie uns die Geschichte vom Urknall und einem sich ausdehnenden Weltall, nun gibt es wieder einen Meinungsumschwung. Was kommt als Nächstes?
Alexander Vilenkin: Unserer neuen Theorie zufolge befindet sich das Universum in einem Zustand explosiver Ausdehnung, wir sprechen von Inflation. Der Urknall, den wir in unserem Teil des Universums hatten, war kein einmaliges Ereignis, sondern es gab viele Knalle. Jeder hat eine eigene Region hervorgebracht, einige so ähnlich wie unsere, viele sehen aber ganz anders aus.
ZEIT: Sind das andere Universen?
Vilenkin: Ja, aber wenn Leute von anderen Universen reden, meinen sie oft Parallelwelten, die von unserem Universum komplett abgekoppelt sind. Wir reden hier aber von sehr weit entfernten Regionen im selben Raum. Zwischen diesen Regionen setzt sich die Aufblähung für immer fort. Das ist die ewige Inflation.
Andrei Linde: Es ist nicht so, dass wir uns unbedingt eine extravagante Theorie einfallen lassen wollten. Aber als wir versuchten, einige Probleme der bisherigen Urknalltheorie zu lösen – und die hatte einige Probleme –, kamen wir auf diese Theorie der vielen Universen.
ZEIT: Was geschah vor unserem Urknall?
Vilenkin: Davor gab es diesen energiereichen Zustand der Inflation. Da, wo die Inflation endet, entsteht ein Feuerball aus Teilchen und Strahlung – ein Urknall. Diese Regionen sind wie isolierte Inseln. Zwischen den Inseln setzt sich die Ausdehnung fort und bringt neue Inseln hervor.
ZEIT: Wir leben also auf einer dieser Inseln.
Vilenkin: So ist es. In sehr weiter Entfernung gibt es auch Regionen, in denen ganz andere Naturgesetze herrschen als bei uns.
ZEIT: Mit Verlaub, all das ist eine ziemlich bizarre Schöpfungsgeschichte.
Linde: Was wir jetzt machen, sieht in der Tat ziemlich verrückt aus. Aber man sollte sich ein bisschen Verrücktheit erlauben und genug Selbstbewusstsein haben, Druck von außen zu widerstehen. Früher galten die Dinge, über die wir hier reden, als kompletter Nonsens. Inzwischen wirkt die Theorie ansteckend.
Vilenkin: Wir waren eine Zeit lang die Einzigen, die über viele Universen redeten. Dank neuer Entwicklungen in der Stringtheorie gibt es inzwischen aber ein großes Interesse.
ZEIT: Die Stringtheoretiker wollten uns eines Tages eine Weltformel präsentieren. Statt dessen heißt es nun, die Stringtheorie habe nicht eine einzige, sondern 10 hoch 500 Lösungen. Was heißt das?
Vilenkin: Die Naturgesetze enthalten Naturkonstanten wie die Massen der Elementarteilchen, die Gravitationskonstante und mehr. Die Stringtheoretiker träumten davon, diese Konstanten eines Tages aus einer fundamentalen Theorie zu berechnen. Jetzt sieht es aber so aus, als würden wir das niemals schaffen, weil die Theorie alle möglichen Werte zulässt.
ZEIT: Entspricht jede Lösung der Theorie einem anderen Universum?
Vilenkin: Jede Lösung beschreibt eine mögliche Region im gesamten Multiversum. Irgendwo existiert also ein Flecken, der einer dieser 10 hoch 500 Lösungen entspricht.
Linde: Wir leben in jenem Teil, wo die Bedingungen für Leben genau richtig sind.
ZEIT: Wie stellen Sie sich das Multiversum vor?
Vilenkin: In einem einfachen Bild könnte man sagen, das Multiversum bestehe aus Blasen – Universen –, die im Raum entstehen und sich dann fast mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnen. Blasen, die vor langer Zeit entstanden, sind riesig, Blasen, die gerade erst entstanden sind, winzig. Zwischen ihnen expandiert der Raum so schnell, dass die Blasen niemals kollidieren. Neue Blasen entstehen, manche sogar innerhalb existierender Blasen. Es ist also ein ziemlich schaumiges Bild.
ZEIT: Könnte ein neues Universum direkt vor uns auf dem Tisch aufpoppen?
Vilenkin: Ja, so eine Blase würde uns ohne Vorwarnung treffen…
Linde: …und der Rekorder würde aufhören aufzunehmen, wir würden keine Fragen mehr beantworten – und auch aufhören zu existieren.
ZEIT: Man würde die Geburt eines neuen Universums also tatsächlich bemerken?
Linde: Bemerken vielleicht, aber niemals darüber berichten.
ZEIT: Kann man andere Universen in einem Teilchenbeschleuniger erzeugen?
Linde: Ich würde es nicht empfehlen. Wenn man Glück hat und weiß, was man tut, kann man ein harmloses Universum erzeugen, das sich von unserem Universum abtrennt. Warum sollte man es dann tun? Wenn man Pech hat, erzeugt man eine Blase, die einen schluckt. Solche Experimente sollten verboten werden.
ZEIT: Haben sie mal die Wahrscheinlichkeit für so ein Ereignis am neuen Teilchenbeschleuniger des Forschungszentrums Cern in Genf ausgerechnet?
Vilenkin: Haben wir. Es ist sehr unwahrscheinlich. Machen Sie sich keine Sorgen.
Linde: Es gibt einige hochenergetische Teilchen im Universum, die mit viel höheren Energien kollidieren, als wir sie in einem Teilchenbeschleuniger erzeugen können. Wenn diese Kollisionen in der Lage wären, Blasen zu erzeugen, wären wir schon längst tot.
Ich sollte noch eine andere Konsequenz der Multiversumstheorie erwähnen: Die Unterhaltung, die wir gerade führen, passiert genau so mit den gleichen Leuten unendlich Mal in anderen Universen.
ZEIT: Sie scherzen.
Der Grund ist sehr einfach: Das Multiversum ist unendlich, und es gibt eine unendliche Anzahl von Regionen, die durch die ewige Inflation entstehen. Auf der anderen Seite gibt es in einer begrenzten Region und in endlicher Zeitspanne aber nur eine endliche Zahl von möglichen Dingen, die passieren können. Also hat man eine endliche Zahl von Geschichten, die in unendlich vielen Orten spielen. Folglich findet jede mögliche Geschichte auch irgendwo statt. Es gibt Kopien von uns Menschen.
ZEIT: Doppelgänger-Universen mit jedem Atom am selben Ort wie in unserem?
Vilenkin: Exakte Kopien unserer Welt. Natürlich gibt es noch viel mehr Regionen, wo ganz andere Dinge passieren.
ZEIT: Wo meine Lieblingsmannschaft in der Bundesliga nicht verliert, sondern gewinnt?
Vilenkin: Das ist korrekt.
Linde: Wo dieses Interview nie gedruckt wird.
ZEIT: Wo Dinosaurier große Autos fahren?
Vilenkin: Auch das.
ZEIT: Wo die Nazis die Welt regieren?
Linde: Leider ja.
Vilenkin: Alles, was nicht von den Naturgesetzen verboten ist.
ZEIT: Welchen Sinn hat das Leben in dieser Welt?
Linde: Man lebt sein eigenes Leben, auch wenn die Kopien dasselbe tun.
Vilenkin: Ehrlich gesagt, ich finde es deprimierend. Am meisten deprimiert mich der Verlust der Einzigartigkeit. Egal, ob unsere Zivilisation nun gut oder schlecht ist, ich dachte immer, wir wären etwas Besonderes. Nun sieht es aber so aus, als wären da unendlich viele andere.
Linde: Alexander, es gäbe zwar einige Orte, wo Kandinsky seine wunderschönen Bilder nicht malen würde, aber es gäbe auch viele, wo er sie malen würde. Das macht mir Hoffnung.
Vilenkin: Einige Menschen mögen die Idee des Multiversums, weil es dann Welten gibt, die besser sind als unsere. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich.
ZEIT: Bekommen Sie böse Briefe?
Vilenkin: Nein, ich bekomme Vorschläge, Buddhismus zu praktizieren.
ZEIT: Wenn es wirklich all diese anderen Universen mit Doppelgängern von uns gibt, dann muss es auch viele Universen geben, in denen Ihre Theorie widerlegt wurde.
Linde: Naaaaa (lacht).
ZEIT: Es ist ein philosophisches Problem.
Vilenkin: Die Theorie kann nicht vorhersagen, dass sie falsch ist. Es kann natürlich andere Orte geben, wo die Leute denken, die Theorie sei falsch.
ZEIT: Die haben sich dann verrechnet?
Vilenkin: Genau.
ZEIT: Werden wir die anderen Universen jemals sehen oder womöglich besuchen können?
Vilenkin: Sie sind außer Reichweite. Wir können nur indirekte Beweise dafür haben.
ZEIT: Das klingt nach einem Problem für eine wissenschaftliche Theorie.
Linde: Erstens sollte man niemals nie sagen. Zweitens sollte man indirekte Beweise nicht unterschätzen. So funktioniert das Rechtssystem. Wenn jemand einen anderen umbringt, gibt man ihm kein Messer, um noch einmal zu morden. Stattdessen lässt man zwölf Geschworene entscheiden, ob dies die einzige Erklärung für den Mord ist.
Trotzdem müssen wir weiterhin versuchen, Vorhersagen aus der Theorie abzuleiten. Es gibt noch einige Werte, etwa die Neutrinomassen, die noch nicht gemessen wurden. Wir versuchen nun, Vorhersagen für diese Werte zu machen. Wenn sie mit den Experimenten übereinstimmen, wird das unserer Theorie mehr Glaubwürdigkeit verleihen.
ZEIT: Der Vatikan hat einst die Urknalltheorie akzeptiert. Gibt es im Multiversum noch Platz für den lieben Gott?
Vilenkin: Der Spielraum Gottes in der Kosmologie schrumpft. Früher konnte man vielleicht noch annehmen, er habe das Universum irgendwie zum Laufen gebracht. Aber im Multiversum beschreiben die Naturgesetze auch die Entstehung der Universen aus dem Nichts. Man kann natürlich noch fragen, woher die Naturgesetze kommen. Das ist ein Mysterium. Es beweist allerdings nicht die Existenz Gottes, noch widerlegt es sie.
ZEIT: Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Vilenkin: Nein.
ZEIT: Nicht in einer anderen Blase?
Linde: Wer weiß das schon!
Das Gespräch führte Max Rauner
Andrei Linde, Professor an der Stanford University, Kalifornien, hat die Multiversumstheorie entwickelt. Alexander Vilenkin von der Tufts Universitiy, Massachusetts, fürchtet Doppelgänger in anderen Welten.
Magier des Multiversums

Foto: Max Rauner
John Barrow entwirft Universen und schreibt Bestseller über das Weltall. Dass seine Theorien Widersprüche enthalten, stört ihn nicht sonderlich. Ein Gespräch über die Grenzenlosigkeit der Fantasie
Quelle: DIE ZEIT vom 22. Juli 2004
DIE ZEIT: Der Titel Ihrer jüngsten Vorlesung lautet: Unser Universum und andere. Wer sind die anderen?
John Barrow: Eine Lieblingsbeschäftigung der Kosmologen besteht darin, unser Weltall mit anderen, hypothetischen Universen zu vergleichen. Diese haben meist nur geringfügig andere Eigenschaften. Astrophysiker versuchen zunächst zu verstehen, wie unser Universum beschaffen ist. Dann müssen sie herausfinden, warum es so und nicht anders ist.
ZEIT: Wie viele andere Universen gibt es denn?
Barrow: Eigentlich unendlich viele. Die Physik lässt Universen zu, die sich in jeder Richtung mit einer anderen Geschwindigkeit ausdehnen, oder solche, die rotieren und sich chaotisch verhalten. Unser All ist zum Glück ziemlich einfach. Es expandiert mit derselben Rate in alle Richtungen. Hier und da trifft man zwar auf einige Klumpen – Galaxien und Galaxien-Cluster. Aber im Durchschnitt sind diese Unregelmäßigkeiten sehr klein.
ZEIT: Existieren die anderen Universen wirklich?
Barrow: Wer weiß… Für die Beschreibung unseres eigenen Kosmos spielt das keine Rolle. Nach dem Standardmodell der Kosmologie kann es in unserem Universum durchaus Regionen geben, die sich von dem für uns sichtbaren All stark unterscheiden. Man könnte die ganze Vielfalt möglicher Universen an unterschiedlichen Orten in einem einzigen All vorfinden – oder in einem metaphysischen Sinn von anderen Universen sprechen.
ZEIT: Könnten wir dorthin reisen?
Barrow: Nein. Die anderen Regionen wären so weit weg, dass uns ein Lebenszeichen von dort niemals erreichen würde. Das ist wie eine Kontaktsperre.
ZEIT: Physiker und Astronomen vertreten Theorien von multiplen Universen, vom Urknall und dem ewig expandierenden All, vom großen Kollaps, dem big crunch, und vom zyklischen Universum, das ständig wiedergeboren wird. Das klingt mehr nach Wundertüte als nach Naturwissenschaft.
Barrow: Es gibt eine Art Kern des Fachs, und es gibt allerlei spekulative Theorien an den Rändern. Diese bekommen meistens mehr Aufmerksamkeit als der Kern. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Kosmologen gerne eine Vielzahl an möglichen Theorien formulieren, ohne dass sie diese gleich als ultimative Welterklärung betrachten.
ZEIT: Auch Sie haben mindestens zwei verschiedene Theorien des Universums publiziert. Kriegt man davon nicht Kopfschmerzen?
Barrow: Man darf nicht an seine Theorien glauben! Es passieren allerlei gefährliche Sachen, wenn Leute unbedingt wollen, dass ihre Theorien wahr sind. Das lässt sich bei den Evolutionsbiologen beobachten. Die liegen ständig miteinander im Clinch, weil sie fest davon überzeugt sind, ihre Theorien hätten enorme ideologische oder politische Konsequenzen. In der Kosmologie ist es einfacher, Theorien zu postulieren, als sie auszuschließen. Daher ist es Ziel des Spiels, so viele Szenarien wie möglich zu entwerfen und an den Beobachtungen zu messen.
ZEIT: Ist Gott für Sie auch nur eines von vielen Szenarien?
Barrow: Man kann die Existenz oder Nichtexistenz Gottes nicht wissenschaftlich beweisen. Es gibt ein paar Leute, die das gerne tun würden: die Kreationisten in den USA. Aber das führt zu einer Verleugnung der Realität.
ZEIT: Gehen Sie in die Kirche?
Barrow: Ja. In Cambridge sieht man viele Akademiker in den Kirchen. Übrigens mehr Astronomen als Biologen. Das liegt daran, dass Astronomen und Teilchenphysiker sich stärker mit den Naturgesetzen und den Symmetrien der Natur befassen. Sie sind von der reinen Schönheit der Welt stärker beeindruckt als Biologen und Psychologen, die wohl mehr das komplexe Durcheinander der Welt vor Augen haben.
ZEIT: Gibt es unter den Kosmologen denn einen Konsens über die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte des Universums?
Barrow: Auf jeden Fall. Wir haben inzwischen ein Standardmodell der Kosmologie, und das hat im vergangenen Jahr ein solides Fundament bekommen durch die Daten von WMAP…
ZEIT: …dem Satelliten, der die kosmische Hintergrundstrahlung vermisst (siehe Kasten).
Barrow: Genau. Aus diesen Daten konnten wir alle möglichen Parameter mit einer Präzision von ein bis zwei Dezimalstellen ableiten, etwa die Expansionsrate, das Alter des Universums und die Materiedichte. Statt zu sagen, das Universum sei 12 bis 16 Milliarden Jahre alt, wissen wir heute: Das All ist 13,7 Milliarden Jahre alt, plus/minus 0,1 Milliarden Jahre. 73 Prozent des Universums bestehen aus einer Art dunkler Energie. Der Rest ist Materie: etwa vier Prozent gewöhnliche, sichtbare Materie, ansonsten dunkle Materie.
ZEIT: Dunkle Materie?
Barrow: Der Großteil der Materie unseres Universums besteht nicht aus Atomen oder Molekülen, sondern aus Elementarteilchen, die kaum mit anderen wechselwirken. Viele dieser Teilchen durchqueren in diesem Augenblick meinen und Ihren Kopf.
ZEIT: Sie machen Witze.
Barrow: Durchaus nicht. In jedem Kubikzentimeter gibt es etwa 400 bis 500 dieser Teilchen, und sie sind mit 250 Kilometern pro Sekunde unterwegs. Wir merken davon nichts. Die Hoffnung ist, dass wir die Teilchen eines Tages mit unterirdischen Detektoren nachweisen können, vielleicht sogar noch bevor wir sie mit Teilchenbeschleunigern wie dem Cern in Genf erfassen.
ZEIT: Erlauben Sie eine Zwischenbilanz: Das Universum besteht ungefähr zu 73 Prozent aus mysteriöser dunkler Energie und zu 23 Prozent aus ebenso unbekannter dunkler Materie. Nur vier Prozent sind uns vertraut. Das klingt weniger nach großem Erfolg als nach großer Krise.
Barrow: Zum Glück macht die dunkle Energie ja nichts Kompliziertes. Sie klumpt nicht zusammen, sie sitzt nur da und beherrscht die Ausdehnung des Universums. Sie benimmt sich wie eine Energie, mit deren Existenz wir gerechnet hatten – die Energie des Vakuums. Wir wissen ziemlich genau, welchen Druck diese Energie ausübt und welche Dichte sie hat. Das große Rätsel, vor dem wir stehen, lautet jedoch: Warum hat die dunkle Energie gerade den Wert, den wir ausrechnen? Wenn man die Zahlen einsetzt, erhält man eine 1 mit 120 Nullen. Wäre der Wert 10119 statt 10120, wären wir heute nicht hier. Die dunkle Energie hätte die Ausdehnung des Universums so früh verursacht, dass weder Sterne noch Galaxien entstanden wären.
ZEIT: Wir hatten also Glück?
Barrow: Vielleicht. Hier führen einige Leute die Multiversum-Idee ein. Wenn es nur ein einziges Weltall gibt, so die Argumentation, warum sollte gerade dieses All Leben ermöglichen? Die Multiversum-Anhänger sagen: Lasst uns annehmen, dass alle theoretisch möglichen Universen auch wirklich existieren. Dann leben wir zwangsläufig in einem jener Universen, die Leben zulassen.
ZEIT: Werden die Physiker eines Tages eine »Theorie für Alles« finden, aus der dann nicht nur die dunkle Energie, sondern auch alle anderen Naturkonstanten herauspurzeln?
Barrow: Es wird eine Theorie für Alles geben, aber sie wird nicht eindeutig alle Werte der Naturkonstanten festlegen. Viele Naturkonstanten werden in der Theorie nur als freie Parameter enthalten sein und eher zufällig jene Werte angenommen haben, die wir heute messen. Das jedenfalls legen die String-Theorien nahe.
ZEIT: Braucht die Physik wieder einen Umsturz? Eine ähnliche Revolution wie beim Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik?
Barrow: Vielleicht brauchen wir eher eine Revolution in der Mathematik als in der Physik. Denn die String-Theorien benötigen sehr anspruchsvolle mathematische Methoden…
ZEIT: …und sind ziemlich praxisfern.
Barrow: In der Tat ist es zurzeit ein großes Problem, dass String-Theorien keine experimentell überprüfbaren Vorhersagen machen. Die Vorhersagen sind noch in der mathematischen Komplexität der Theorie verborgen. Das ist so, als müsste man Schmuck aus einem Safe holen, dessen Kombination man nicht kennt. Also muss man alle möglichen Zahlenpermutationen ausprobieren. Bis jetzt war das nicht erfolgreich.
Das Gespräch führte Max Rauner
Aliens und Atheisten

George Coyne
Er leitet die päpstliche Sternwarte und würde Außerirdische nach der Erbsünde und der Erlösung fragen. George Coyne hält als gläubiger Astrophysiker und kritischer Priester im Vatikan die Fahne der Wissenschaft hoch
DIE ZEIT: Sie sind Jesuit und Astronom. Wenn Sie in den Himmel gucken, sehen Sie dort die Schöpfung Gottes?
George Coyne: Zunächst mal sehe ich Sterne, und ich versuche, sie als Wissenschaftler zu verstehen. Mein religiöser Glaube wird natürlich durch die Wissenschaft bereichert. Als Priester versuche ich herauszufinden, was die Forschungsergebnisse für meinen religiösen Glauben zu bedeuten haben.
ZEIT: Viele Wissenschaftler halten die Existenz des Universums für Zufall, religiöse Menschen sehen dahinter einen Plan. Auf welcher Seite sind Sie?
Coyne: Die Frage ist unzureichend formuliert. Es gibt eine dritte Komponente, und das ist die Fruchtbarkeit des Universums. 10 hoch 22 Sterne gibt es im Universum! Es begann vor rund 14 Milliarden Jahren im Urknall, und durch das Entstehen und Vergehen der Sterne wurden jene chemischen Elemente hervorgebracht, aus denen alles zusammengesetzt ist, wir eingeschlossen. Wir bestehen im wahrsten Sinne aus Sternenstaub. Nur im Innern der Sterne konnte genug Kohlenstoff entstehen, um Fußnägel, Ohrläppchen und all das hervorzubringen.
ZEIT: Zufall oder Notwendigkeit?
Coyne: Zufall und Notwendigkeit gehen über eine lange Zeitspanne Hand in Hand, sodass menschliches Leben in einem fruchtbaren Universum aus beiden heraus entsteht. Zum Beispiel treffen zwei Wasserstoffatome im frühen Universum aufeinander. Eigentlich müssten sie ein Molekül bilden, denn das ist die Natur der chemischen Bindung. Aber das passiert nicht, weil Druck und Temperatur zu dieser Zeit und an diesem Ort dafür ungünstig sind. Also driften die Atome wieder durchs All. Zufällig treffen sie wieder aufeinander, und diesmal stimmen die Bedingungen. Abermilliarden Wasserstoffatome machen das viele Milliarden, Trilliarden Mal. Warum also sollten wir überrascht sein, dass nach langer Zeit eine komplizierte Chemie daraus hervorgeht? Es ist ein deterministischer Prozess mit einer Zufallskomponente.
ZEIT: Und wo bleibt Gott?
Coyne: Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus sagt das natürlich gar nichts über Gott – ob er existiert oder nicht oder ob er die Welt erschaffen hat. Meine Interpretation geht so: Gott schuf das Universum so, wie es ist, weil er seine schöpferische Kraft und seinen Dynamismus mit dem Universum teilen wollte. Er wollte das Universum nicht wie eine Maschine konstruieren, die ihre Arbeit verrichtet. Er wollte seine Liebe mit dem Universum teilen. Und deshalb liegt jeder falsch, der die neodarwinistische Evolutionstheorie für inkompatibel mit dem christlichen Glauben hält. Die beiden sind nicht nur miteinander vereinbar, die Evolutionstheorie glorifiziert Gott. Das ist, wohlgemerkt, meine religiöse Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnis – keine Wissenschaft.
ZEIT: Ist Gott außerhalb des Universums?
Coyne: Sowohl außerhalb als auch innerhalb. Er wirkt im Universum durch seinen Geist. Gott ist immanent im Universum. Das ist kein Pantheismus, er ist nicht identisch mit dem Universum. Gott ist ewig, was immer das heißt. Wir haben Schwierigkeiten mit dem Begriff der Ewigkeit, weil wir in der Zeit leben. Deshalb können wir uns auch nicht vorstellen, dass Zeit und Raum erst im Urknall ihren Anfang nahmen. Es gibt kein »vor dem Urknall«, es gab keine Zeit.
ZEIT: Hat Gott den Urknall geschaffen?
Coyne: Ja. Aber das war kein singulärer Akt, sondern es ist eine kontinuierliche Schöpfung. Aber das ist ein Glaubensbekenntnis, keine Wissenschaft. Der Urknall benötigt nicht unbedingt einen Gott.
ZEIT: Stephen Hawking argumentiert: Wenn es keinen Anfang gab, gibt es auch keinen Platz für Gott.
Coyne: Falsch. Gott ist keine Randbedingung des Universums. Man kann die Existenz Gottes nicht mit Hilfe der Quantenphysik widerlegen – noch kann man sie beweisen. Die Wissenschaft ist gegenüber religiösen, philosophischen und theologischen Schlussfolgerungen absolut neutral.
ZEIT: Damit dürften Sie in der katholischen Kirche eine Minderheitenmeinung vertreten.
Coyne: Die meisten Katholiken stehen solchen Diskussionen sehr zurückhaltend gegenüber. Viele haben Angst, dass wir Gott verlieren werden. Eine absolut unbegründete Angst. Ich kann mich nur wiederholen: Wissenschaft glorifiziert Gott.
ZEIT: Bekommen Sie manchmal Ärger von Ihren Kollegen?
Coyne: Nein, dafür hört man mir nicht genug zu.
ZEIT: Wie sieht es auf der anderen Seite aus, kann die Wissenschaft von der Religion lernen?
Coyne: Ich sehe kein spezielles Fachgebiet, wo das der Fall sein könnte. Generell kann die Religion aber die Wissenschaft davon abhalten, sich allwissend zu fühlen. In diese Versuchung gerät die Wissenschaft leicht, weil sie so erfolgreich ist.
ZEIT: Kann die Wissenschaft die katholische Kirche noch mit irgendetwas schockieren?
Coyne: Schwer zu sagen. Jedes Mal, wenn die Wissenschaft mit neuen Entdeckungen kommt, reagieren Teile der katholischen Kirche mit Skepsis und Ablehnung. Das liegt in der Natur dieser Institution. Vor allem, wenn es um die Evolutionstheorie geht. Ich kann partout nicht erkennen, warum die Evolutionstheorie als atheistisch angesehen wird.
ZEIT: Weil es in der Bibel heißt, dass Gott den Menschen erschaffen hat.
Coyne: Das ist eine wunderschöne Geschichte, aber keine Wissenschaft. Die Bibel wurde zwischen 2000 vor Christus und 200 nach Christus von vielen verschiedenen Autoren aus unterschiedlichen Kulturen geschrieben. Sie enthält eine Menge Wahrheiten, aber keine wissenschaftliche Wahrheit. Am ersten Tag machte Gott das Licht, und am vierten Tag schuf er die Sonne und die Sterne. Nur, mit Verlaub, wo zum Teufel kam am ersten Tag das Licht her, wissenschaftlich gesprochen? Ein Wissenschaftler hat mir mal vorgeschlagen, es könne sich um die kosmische Hintergrundstrahlung handeln…
ZEIT: …das Echo des Urknalls.
Coyne: Das ist absurd. Die Hintergrundstrahlung wurde in den 1960er Jahren entdeckt, ein Autor der Genesis konnte das nicht vorhersehen.
ZEIT: Vielleicht wurde er von Gott inspiriert?
Coyne: Ich kann hier nicht über göttliche Inspiration reden. Was meinen wir mit Inspiration? Was, wenn wir von Gottes Wort sprechen? Das ist ein schwieriges theologisches Thema.
ZEIT: Bleiben wir auf dem festen Boden der Wissenschaft: Glauben Sie an die Existenz von außerirdischem Leben?
Coyne: Wir haben weder Beweise dafür noch dagegen: Also gibt es keine wissenschaftliche Antwort. Es gibt nur die Diskussion, ob die Bedingungen für Leben anderswo im Universum gegeben sind. Immer mehr Daten, die wir sammeln, scheinen dafürzusprechen.
ZEIT: Wären Aliens ein Problem für die Kirche?
Coyne: Stellen wir uns einmal eine Konversation mit einem Außerirdischen vor. Meine erste Frage würde lauten: Bist du intelligent? Nehmen wir an, wir kommen zu dem Schluss, dass er so intelligent ist wie ich. Dann frage ich: Bist du spirituell? Oh ja, sagt er, wir glauben an ein ewiges Leben und an ein allmächtiges Wesen. Großartig, also frage ich: Habt ihr gesündigt? Dahinter steckt die ganze Diskussion über die Erbsünde. Nehmen wir an, er bejaht, seine Großeltern hätten ihm erzählt, dass die Urahnen einst sündigten. Wurdet ihr erlöst? Nun, wenn er jetzt antwortet: Ja, wir wurden erlöst, weil Gott uns seinen einzigen Sohn schickte, dann haben wir ein theologisches Problem. Konnte Gott seinen einzigen Sohn, wahrer Gott und wahrer Mensch, zu uns schicken und seinen einzigen Sohn, wahrer Gott und wahrer Marsianer, zu einem anderen Planeten?
ZEIT: Klingt kompliziert.
Coyne: Ich sehe nicht, wie das gehen sollte. Aber meine eingeschränkte Vorstellungskraft bedeutet nicht, dass es nicht geht. Der Punkt ist: Wir stellen hier viele Hypothesen auf. Also werde ich ungeduldig. Ich muss meine Wissenschaft voranbringen, ich kann nicht dauernd darüber nachdenken, ob Jesus auf anderen Planeten erscheint oder ob ich Aliens taufen würde.
ZEIT: Wissenschaft ist im Selbstverständnis kritisch, undogmatisch und offen gegenüber neuen Ergebnissen. Die katholische Kirche vertraut der Unfehlbarkeit des Papstes. Geht das zusammen?
Coyne: Die Autorität der Wissenschaft sind die Fakten, die empirischen Daten. Wogegen die Autorität innerhalb der Kirche eine von außen aufgezwungene Autorität ist, kein Zweifel. Wir sehen die Kirche in diesem Punkt sehr kritisch. Ich leugne die Unfehlbarkeit nicht, aber ich sage den Leuten: Der Papst ist unfehlbar, aber wir wissen nie, wann und wie er zu einer Schlussfolgerung gekommen ist.
ZEIT: Fühlen Sie als katholischer Astrophysiker und forschender Katholik eine innere Zerrissenheit?
Coyne: Es gibt eine Spannung, aber es ist eine gesunde Spannung. Vor ungefähr zehn Jahren hielt ich einen Vortrag in Triest über Unsicherheiten bei der Altersbestimmung des Universums. Zufällig trug ich meinen Priesterkragen. Nach dem Vortrag stand jemand auf und sagte: Es muss ein großer Trost sein, wenn man bei all diesen Unsicherheiten wissenschaftlicher Ergebnisse den Glauben als einen Hafen der Sicherheit anlaufen kann. Ich nahm meinen Kragen ab und sagte: Sie irren sich total. Der Glaube ist kein sicherer Hafen, er ist eine Herausforderung. Jeden Morgen wache ich auf und habe Zweifel, gesunde Zweifel. Eines ist sicher, wir werden nie die richtige Vorstellung von Gott und seiner Beziehung zum Universum haben, wenn wir nicht das Universum, so gut es geht, wissenschaftlich erforschen.
Die Fragen stellte Max Rauner
George V. Coyne, geboren 1933 in Baltimore, Maryland, trat schon mit 18 Jahren dem Jesuitenorden bei. Er studierte Theologie, Mathematik, Astronomie und Philosophie und promovierte über die Oberflächenstruktur des Mondes. Seit 1978 leitet Coyne die Sternwarte des Vatikans und engagiert sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Religion. Während der Amtszeit von Papst Johannes Paul II. trieb er die Rehabilitation von Galileo Galilei voran. Specola Vaticana, die Sternwarte des Vatikans, befindet sich in der Sommerresidenz des Papstes in Castel Gandolfo, 25 Kilometer südöstlich von Rom. 1784 wurde erst ein Turm im Vatikan zur Specola Vaticana ausgebaut, 1935 brachte man die Teleskope aufs Land, wo die Sicht besser war. Heute unterhält die Sternwarte unter Leitung der Jesuiten auch ein modernes Teleskop am Mount Graham in Arizona. Die zwölf Mitarbeiter pendeln zwischen den USA und Italien.
Update: George Coyne wurde im August 2006 von José Gabriel Funes als Direktor der Vatikan-Sternwarte abgelöst.