Hugh Everett war kein großer Redner. “Ich erinnere mich an drei oder vier Worte, die er in unseren 19 gemeinsamen Jahren gesprochen hat”, sagt heute sein Sohn, der Rocksänger Mark Everett. Mit 19 Jahren fand Mark seinen Vater tot im Bett. Erst danach erfuhr er von dessen Geistesleistungen. In einem anderen Universum kann er ihn noch selbst danach fragen.
Hugh und Mark sitzen am Pazifikstrand in Los Angeles, wo Mark als Musiker arbeitet. Die Sonne sinkt ins Meer. Wie früher so oft schweigen Vater und Sohn sich an. Hugh steckt sich eine Zigarette an. Mark schaltet seinen Ghettoblaster ein – die Dire Straits mit “Brothers in Arms”:
Theres so many different worlds
So many differents suns
And we have just one world
But we live in different ones
M: Dad, in was für einer Welt hast all die Jahre gelebt?
H: Gelebt hab ich in derselben Welt wie du. Aber Leben und Wissenschaft vertragen sich eben nicht immer. Man muss die Welt aus der Distanz betrachten, um sie neu zu verstehen. Der Bauernsohn Newton. Der Patentbeamte Einstein. Außenseiter wie ich.
M: Kopernikus war kein Außenseiter.
H: Kopernikus war ein Feigling. Wenn es wirklich ernst wurde, hat er sein Weltbild als bloße Gedankenspielerei verleugnet.
M: Und du? Hast gerade mal diesen einen Artikel geschrieben und warst dann beleidigt, als die Elite der Physik einem 26-jährigen Doktoranden, der ihnen von unermesslich vielen Parallelwelten erzählt hat, nicht gleich applaudiert hat.
H: Einige wenige haben die Tragweite meiner Arbeit erkannt. Mein Doktorvater John Wheeler hat mich in eine Reihe mit Newton, Maxwell und Einstein gestellt.
M: Warum hast du mir nie erzählt von deiner Arbeit?
H: Wie hättest du sie verstehen können, wenn kaum einer meiner Kollegen sie damals verstanden hat?
M: Inzwischen hat deine Theorie ja fast schon Kultstatus gewonnen.
H: Sie wird noch immer wie ein Kuriosum behandelt. Nur ein paar Physiker haben ihre Tragweite erkannt. Und ein paar Esoteriker haben sie zurechtgebogen, um ihren Jenseitsglauben wissenschaftlich zu auszuschmücken.
M: Ist das denn dein Ernst? Die Welt verzweigt sich in jedem Augenblick myriadenfach? Das ist doch völlig verrückt.
H: Nichts ist mir ernster.
M: Wenn die Welt sich unaufhörlich teilt, warum haben ihre Bewohner dann bisher nichts davon mitgekriegt, bis du es ihnen gesagt hast?
H: Das gleiche lächerliche Argument wurde damals gegen das heliozentrische Weltbild angeführt. Spürst du etwa, dass die Erde sich bewegt?
M: Nein…
H: … aber trotzdem glaubst du es. Und wenn du die Augen aufmachst, siehst du es auch. Schau dir den Sonnenuntergang an! Das ist nichts anderes als die Erdrotation.
M: Aber ich sehe nichts davon, dass die Welt sich verzweigt.
H: Du hörst es gerade.
M: Ich höre nur die Dire Straits.
H: Dein Gerät da tastet die CD mit einem Laser ab. Der funktioniert, weil die Welt den Gesetzen der Quantenmechanik folgt. Und diese Gesetze besagen, dass die Welt mit jedem Gitarrenakkord aus deinem Lautsprecher in viele Weltenzweige zerfällt.
M: Wieviele?
H: Unermesslich viele. Mit Zahlen nicht auszudrücken.
M: Ach Dad, als ich klein war, hättest du mir Märchen erzählen können. Jetzt ist es ein bisschen spät.
H: Das ist kein Märchen. Das ist die beste physikalische Theorie, die wir haben.
M: Wo sollen denn all diese Welten sein?
H: Man kann nicht auf sie zeigen. Sie existieren in einem höherdimensionalen mathematischen Raum, genannt Konfigurationsraum.
M: Und woher kommen sie? Eine Welt materialisiert sich doch nicht einfach so aus dem Ghettoblaster.
H: Du meinst, das Prinzip der Erhaltung der Materie wäre verletzt?
M: Hm, ja, das ist wohl, was ich meine.
H: Dieses Prinzip gilt nur innerhalb einer Welt. Wenn du meine Deutung der Quantenmechanik widerlegen willst, dann vergiss es. Das haben schon ganz andere versucht.
M: OK, sie mag logisch sein. Aber sie kommt mir so unwissenschaftlich vor. Ich dachte, Wissenschaftler wären vorsichtig damit, die Existenz neuer Objekte zu behaupten. Und du kommst mit unzähligen Welten daher.
H: Ja, es gibt das Sparsamkeitsgebot – Ockhams Rasiermesser. Aber das verlangt eine Ökonomie der Ideen, nicht eine Ökonomie der Welten. Und meine Idee, dass die Welt sich in alle Möglichkeiten verzweigt, ist einfacher als die alte Idee, das immer der Zufall eine Möglichkeit auswählt.
M: Wie soll ich mir das denn vorstellen: Die Welt verzweigt sich?
H: Das mit dem Verzweigen ist eigentlich nur eine Redeweise. Strenggenommen verzweigt sich da nichts. Die Welt ist in mehreren, sich überlagernden Zuständen gleichzeitig. Du bemerkst die Überlagerung im Alltag nicht, weil die Zustände sich sehr schnell auseinander entwickeln. Sei froh! Es wäre ziemlich verwirrend.
M: Versteh ich nicht, aber ich lasse nie einen Grund aus, froh zu sein.
H: Freu dich in Ruhe. Ich rauche inzwischen noch eine.
M: Qualmst du immer noch so viel?
H: So viel ich will.
M: In manchen Universen bist du daran gestorben.
H: Ich bin an allem Möglichen gestorben im Multiversum.
[…] und Sohn – ein fiktiver Dialog zwischen Hugh und Mark Everett http://vielewelten.de/?p=214 #manyworlds […]